Eine Frage hat mich einen ganzen Sonntag über beschäftigt: Wenn einer an einem antiken Holzschiff (A) alle Planken und sonstige Teile erneuert – und all die alten Teile wieder zu einem zweiten Schiff (B) zusammensetzt, welches Schiff ist dann das Original?
Hört sich einfach an? Vielleicht, doch die Frage hat einen mega-philosophischen Tiefgang! Prinzipiell sind vier Antworten möglich:
1. Schiff A ist das Original, weil das „Objekt“ identisch ist.
2. Schiff B ist das Original, weil es aus den Originalteilen besteht.
3. Keines der beiden Schiffe ist das Original.
4. Beide Schiffe sind das Original (also diese Antwort scheint besonders paradox).
Die ganze Denksportaufgabe ist bekannt unter Bezeichnungen wie „Das Schiff des Theseus“ oder Theseus-Paradoxon. Denn der antike griechische Historiker Plutarch (1. Jh. n. Chr.) beschreibt das philosophische Paradoxon als erster anhand des Schiffes des legendären Athener Königs Theseus, dessen Planken ständig erneuert wurden. Dabei bringt er das Thema so auf den Punkt: „[…] Die einen behaupteten, das Boot sei nach wie vor dasselbe geblieben, die anderen hingegen, es sei nicht mehr dasselbe.“
Damit sind wir bei meinem aktuellen Lieblingsthema: Heraklit von Ephesos.
Immer wieder wird behauptet, ein Fragment des griechisch-ionischen Naturphilosophen Heraklit aus dem 5. Jahrhundert vor Christus hätte den Gedanken bereits wie folgt formuliert: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ Dieser Satz wird zurecht Heraklit zugeschrieben, doch mit Theseus´ Schiff hat er nichts zu tun. Denn hierbei geht es um den Fluss.
Stattdessen geht es um folgende Aussage des großen Heraklit von Ephesos: „In dieselben Fluten steigen wir und steigen wir nicht: wir sind es und sind es nicht.“ Der clevere Vorsokratiker übertrug die philosophische Frage nach dem Originalschiff nämlich auf uns Menschen! Genauer, auf die Frage unserer Identität!
Einfach gefragt lautet sie: Bin ich im Alter von 60 Jahren der Gleiche beziehungsweise Derselbe wie mit zehn oder 20 Jahren?
Im Moment arbeite ich am zweiten Band meines historisch-biographischen Romans über Heraklit – und stelle dabei immer wieder fest, dass viele schlaue Sprüche des ephesischen Naturphilosophen uns Menschen bis heute beschäftigen...
[Quelle Foto: Élisée Reclus, Public domain, via Wikimedia Commons]